Das Absagen von Veranstaltungen ist seit Pandemiezeiten zur Gewohnheit geworden, die schon lange keine allzu große Bestürzung mehr auslöst. Da war die Ankündigung vom Freitag dem 6. August, dass der Nachtwandel im Mannheimer Stadtteil Jungbusch auch 2021 nicht stattfinden wird, eine große Ausnahme. Irritiert, überrascht und enttäuscht zeigten sich viele über die Gründe der Absage, denn die hatten ausnahmsweise mal nichts mit der Pandemie zu tun.
Dabei ist ein abgesagter Nachwandel per se schon nichts Neues mehr: Bereits im Jahre 2016 fand er nicht statt. Es sollte inne gehalten werden, wie Hauptorganisator Michael Scheuermann damals die Absage begründete, um ein neues Konzept für den Nachtwandel mit allen Unterstützern zu erarbeiten. Der Nachtwandel wandelt sich rasant, aus dem einstigen Kunst und Kulturereignis, dem Galerien- und Atelierrundgang im Jungbusch, der vor 20 Jahren einmal ein paar wenige hundert Kunstinteressierte anlockte, ist heute ein Massenbesäufnis mit zehntausenden Feiernden geworden.
Party vertreibt Kunst, Anwohner und jetzt noch der Nachtwandel
Um Kunst und Kultur geht es beim heutigen Nachtwandel und im Jungbusch schon lange nicht mehr, die einstigen Galerien und Künstler sind längst verschwunden. Vertrieben und verdrängt wurden sie von Clubs, Kneipen, Bars und Restaurants. Partys sowie hemmungsloses feiern und saufen definieren das heutige Leben dort, der Jungbusch verkommt mehr und mehr zum Ballermann Mannheims und zum neuen Problemviertel. Der Verdrängungsprozess der Vergnügungsstätten geht unvermindert weiter, es wird mittlerweile so viel gefeiert, dass ein Wohnen im Jungbusch kaum mehr möglich ist.
Dabei von einem „gigantischen Anwohnerproblem“ zu sprechen ist allerdings komplett falsch, richtigerweise müsste von einem gigantischen Partyproblem gesprochen werden: Denn die Anwohner sind nicht das Problem. Jedenfalls sei es in dieser „erhitzen Lage“ notwendig, so Scheuermann, den Nachtwandel 2021 abzusagen. Es würde keinen Sinn machen, zu den ohnehin schon viel zu vielen Feiernden noch zusätzlich weitere zehntausende einzuladen. Nach der Kunst und den Anwohnern ist der Nachtwandel damit das dritte Opfer des unkontrollierten Verdrängungsprozesses im Jungbusch. Doch zum ersten Mal wird damit kein neuer Raum für weitere Expansion geschaffen: Es ist vielmehr eine Absage der eigenen Party. Die giftige Schlange hat sich soeben in den eigenen Schwanz gebissen.
Politischer Nachtwandel am Tag der Absage
Nur wenige Stunden nach der Absage des Nachtwandels stehen an jenem denkwürdigen Freitag etwas betreten einige für den Jungbusch zuständigen Politiker auf dem Quartiersplatz. Der Bezirksbeiratssprecher der SPD Karim Baghlani hatte zum Rundgang eingeladen. Von den zuständigen Stadträten ist allerdings keiner gekommen, von nahezu alle Fraktionen sind zumindest aber ihre Sprecher anwesend: Neben Baghlani noch Christian Kirchgässner (CDU), Olaf Kremer (Grüne), Steven Kunz (Linke), Johannes Schmidt (FDP), Rainer Kopp (AfD) und Claudia Joerger (Die Partei). Von den Grünen sind zudem noch die Bezirksbeiratsmitglieder Ines Joneleit, Christian Bock und Jutta Schroth anwesend.
Darüber hinaus ist der Nachtbürgermeister Robert Gaa zusammen mit zwei Mitarbeitern der Nachtschicht auf dem Quartiersplatz, vom städtischen Fachbereich Sicherheit und Ordnung ist Harald Born gekommen, Sigrun Unger als Vertreterin der Monitoringgruppe, Hermann Rütermann vom Soziokulturellem Zentrum Kulturbrücken und schließlich sind noch einige betroffene Anwohner mit dabei: Sowohl aus dem Jungbusch als auch aus der Neckarstadt, denn auch dort beobachtet man die Entwicklung jenseits des Neckars sehr genau, da eine Verlagerung der Partyszene befürchtet wird.
Viel Lärm trotz kleiner Party
Doch von großer Party ist an diesem Freitagabend im Jungbusch recht wenig zu sehen: „Die wissen schon alle, dass wir kommen“, erklärt Baghlani zu Beginn leicht scherzend. Vielmehr aber dürfte die kühle Witterung und auch die Urlaubszeit dafür Verantwortlich sein, dass es an diesem Abend eher ruhig im Kiez zugeht. „Um diese Uhrzeit ist es auch noch viel zu früh“, klärt darüber hinaus eine Anwohnerin auf, der Lärm gehe erst viel später los, wenn Drogen und Alkohol richtig zu wirken beginnen.
Doch auch ohne große Party zeigt sich bereits nach wenigen Metern des Rundgangs die Problematik im Jungbusch: „Es gibt keine Kontrolle und keine Nachverfolgung“, wie ein lärmgeplagter Bewohner berichtet. Aus einer Bar mit Restaurant in der Jungbuschstraße ist zur Nachtstunde ein Musikclub geworden, aus dem lautstark die Bässe auf die Straße wummern. Die Fläche vor dem Haus wird zudem ohne Sondernutzungsrecht als Warteraum mit Absperrbändern zugestellt, so dass ein Durchkommen für Passanten nicht mehr möglich ist. Und die an jenem Freitag noch geltende Abstands- und Maskenpflicht wird auch nicht eingehalten: Harald Born vom städtischen Fachbereich Sicherheit und Ordnung versucht telefonisch diensthabende Kollegen zu erreichen um die möglichen Ordnungswidrigkeiten zu überprüfen, doch er erreicht niemanden: „Ich habe gar nicht so viel Personal, um das alles abzuarbeiten“, so seine Entschuldigung.
Rütermann misst mit einem Schallmessgerät auf der gegenüberliegenden Straßenseite des Clubs einen konstanten Lärmpegel von über 80 Dezibel, in Spitzen sogar weit über 90 Dezibel, der von der Musik und den Feiernden in und vor dem Club ausgeht: „Da kann doch keiner mehr wohnen.“ Das Mitführen von portablen Lautsprechern ist mit neuester Allgemeinverfügung im Jungbusch zwar untersagt, aber: „Lärmschutz scheint offensichtlich nicht für die Gastronomen zu gelten“, wie eine Betroffene kritisch anmerkt. Die Stadt müsste eigentlich zügig Lärmschutzmaßnahmen ergreifen, wenn der Schwellenwert von 60 Dezibel in der Nacht überschritten wird, zumindest bei Fahrzeuglärm. „Und bei Partylärm von 90 Dezibel?“ Ihre Frage bleibt in dieser Nacht ohne Antwort.
Kritik an Maßnahmen und fehlenden Kontrollen
Auch ein hochmotorisierter Wagen, der in der Beilstraße in der Fußgängerzone geparkt ist, beschreibt genau die Problematik der fehlenden Kontrolle und wird zum Symbol der Tatenlosigkeit: Der Wagen müsste eigentlich sofort abgeschleppt werden. Aber er wird nicht abgeschleppt. „Der Wagen steht hier fast jeden Tag“, berichtet eine ortskundige Teilnehmerin des Rundgangs.
Die Bemühungen der Verwaltung, dem Lärm und Alkoholkonsum mit neuen Verordnungen Einhalt gebieten zu wollen, werden auf dem Rundgang ebenfalls scharf kritisiert: „Die bringen nichts, wenn die Einhaltung nicht kontrolliert werde“, so die übereinstimmende Aussagen der Betroffenen. Die Polizei fährt in ihren Fahrzeugen zwar durch das Viertel um präventiv Präsenz zu zeigen, das Ordnungsamt aber ist an diesem Abend nicht zu sehen, auch Kontrollen werden offenbar nicht durchgeführt. Zudem gibt es auch inhaltliche Kritik, denn die neue Allgemeinverfügung mit dem Alkohol- und Lautsprecherverbot gilt nur bis zur östlichen Seite des Verbindungskanals, nicht aber auf der westlichen und genau dort hin verlagert sich neuerdings die Szene und von dort schallen jetzt die privaten Bässe in den Jungbusch.
Einmal mehr werden auf dem Rundgang die vielen Möglichkeiten durchgesprochen, die bereits umgesetzt wurden oder viel diskutiert wurden und letztlich gar nicht umsetzbar sind. Dabei wird auch Kritik an der Arbeit der Nachtschicht und des Nachtbürgermeisters laut: „Es reicht nicht Plakate auszustellen und die Feiernden höflich zu bitten, ein bisschen leiser zu sein. Das interessiert die nicht“, so ein betroffener lärmgeplagter Anwohner: „Gute Wille-Schilder brauchen wir nicht, wir brauchen konsequentes Durchgreifen.“
Dialog und gemeinsames Handeln als Ziel
Die Mitarbeiter der Nachtschicht werden kurzerhand aktiv und sprechen mit einer Gruppe Jugendlicher, die statt verbotener Lautsprecher nun eine erlaubte Gitarre mitgebracht haben und im Lichtkegel einer Laterne am Verbindungskanal feiern. Der Bitte um Ruhe und dass das Feiern nicht direkt vor Wohnhäusern sein müsse, kommen die Jugendlichen nach und ziehen davon. Ein kleiner Erfolg an diesem Abend.
„Das Ergebnis war gut“, fasst Baghlani den Rundgang zusammen: „Langfristiges Ziel ist ein Interessenausgleich zwischen Besuchern des Jungbuschs sowie den Anwohnern, wobei die körperliche Unversehrtheit der Anwohner ein größeres Gewicht beizumessen ist.“ Nach anderthalb Stunden stehen alle wieder auf dem Quartiersplatz, dort ist es schon etwas lauter geworden, die ersten Glasscherben liegen auf dem Boden. Viele Eindrücke und Anregungen würden die Politiker mitnehmen, so wird das Ergebnis zusammengefasst. „Wir wollen mit den verschiedenen Interessensgruppen aus dem Jungbusch weiterhin im Dialog bleiben und gemeinsam handeln“, so Baghlani zum Abschluss.
Der Jungbusch als vermeintlich rechtsfreier Raum
Während sich die Politiker verabschieden, erwacht der Jungbusch langsam. Bei einem anschließendem weiteren privaten Rundgang durch den Jungbusch wird nochmals deutlich, was zuvor schon vielfach gesagt wurde: Der Jungbusch wird als rechtsfreier Raum wahrgenommen, im Jungbusch gelten offenbar keine Regeln und Vorschriften, denn es wird nicht kontrolliert: Das ungezügelte Nachtleben bestimmt, was gemacht wird und gemacht werden soll. Dabei werden weder allgemeine Vorschriften noch aktuelle Maßnahmen beachtet oder umgesetzt: Beim Zutritt in zwei zufällig ausgewählte Bars wurde im Innenraum weder auf die Maskenpflicht hingewiesen noch die Daten zur Kontaktverfolgung eingefordert.
Bei weiteren Gesprächen wird dann auch deutlich, dass das Problem Jungbusch nicht alleine mit den angesprochenen Mitteln in Griff zu bekommen ist: Zwei weitere Wohnblocks sollen jüngst verkauft worden sein, den Bewohnern ist bereits gekündigt, so wird es berichtet. Aus einer Wohnung im Erdgeschoss soll eine neue Bar werden, auch das ist Szenekennern schon bekannt: „Mit der Begründung, dass früher einmal eine gewerbliche Nutzung in dem Objekt angesiedelt war, können die Investoren heute problemlos Wohnraum wieder in ein Gewerbeobjekt umwandeln.“ An der Schaffung von neuem Wohnraum habe im Jungbusch ohnehin kaum jemand Interesse, dafür müssten ja auch neue Parkplätze nachgewiesen werden: „Hoffnungslos im völlig zugeparkten Jungbusch“, wie ein Teilnehmer noch ergänzt: „Die Investoren planen hier nicht mit Wohnraum, bei dem Partylärm ist der Jungbusch nicht unbedingt die erste Wohnadresse.“
Schonungslose Gentrifizierung und hemmungslose Partys gehen weiter
Es ist kurz vor zwei Uhr, der Jungbusch riecht heftig nach Gras, die ersten Feiernden haben Probleme, sich auf ihren zwei Fußen zu halten während noch immer frische Partygäste im Jungbusch ankommen. Es ist noch mal lauter geworden. Auch die zuvor von der Nachtschicht angesprochene Gruppe mit der Gitarre feiert noch, unweit ihres ersten Platzes haben sie sich nach der Ansprache neu niedergelassen: Das Problem wurde somit letztlich nicht gelöst, sondern nur verlagert.
Und auch der hochmotorisierte Wagen steht noch da, wo er vorhin schon stand und beim ersten Rundgang bereits bemängelt wurde. Oder vielleicht steht er auch schon wieder da. Aber das ist unerheblich. Das Problem im Jungbusch liegt woanders: Solange die Gentrifizierung schonungslos und die Party hemmungslos weitergeht und verantwortliche Stellen dem nicht effektiv entgegen schreiten, war es nur allzu konsequent, den Nachtwandel abzusagen.