„Das Foto ist aus dem Nichts entstanden“, berichtet Michel über eines seiner berühmtesten Fotos. Und er wirkt dabei so, als könne er es noch immer nicht wirklich glauben, was er damals für ein wichtiges Foto machte. Der Theaterfotograf Hans Jörg Michel hatte eigentlich andere Szenen favorisiert, als er 1991 am Nationaltheater Mannheim die Trilogie der Ferienzeit von Carlo Goldoni in der Inszenierung von Nicolas Brieger fotografierte. Dann sah er, mehr im Augenwinkel, wie die Schauspielerin Katharina Voss die Bühne verlässt. Ohne lange zu überlegen drückte Michel kurzentschlossen ab.
Warum er nicht ihren Auftritt, sondern den Abgang fotografiert, warum er die kongeniale Schauspielerin nicht im Spiel in Szene setzt, warum er die bezaubernde Voss nur von hinten und ohne ihr Gesicht zu zeigen fotografiert und warum außer einer Tür nicht viel von der Bühne und der Inszenierung zu sehen ist, sind kritische Fragen zu dem Foto, die Michel aber nicht mehr beantworten braucht: Er hatte den richtigen Moment erwischt und wohl das berühmteste seiner Theaterfotos geschossen. Kurze Zeit später war fast die gesamte Mannheimer Stadt mit diesem Foto plakatiert. „Wir spielen noch“ lautete die Werbebotschaft des Schauspielhauses, nahezu an jeder Haltestelle hing sein übergroßes Foto und leuchtete als illuminierter Werbeträger Tag und Nacht: Nicht nur der Rücken der Katharina Voss war plötzlich berühmt geworden.
Vernissage wird für Michel zur Finissage
30 Jahre später feiert das Plakat eine Renaissance, es hängt wieder in Mannheim: nur wirbt es diesmal für die Ausstellung »37 – Hans Jörg Michel«. Das Nationaltheater widmet seinem langjährigen Hausfotografen eine Ausstellung, mit hunderten seiner Fotos würdigt die Retrospektive Michels Schaffen. Die Vernissage am vergangenen Freitag ist für ihn vielmehr auch eine Finissage, Michel verabschiedet sich in den Ruhestand.
Der „Auszug aus dem Haus“, wie Mannheims Oberbürgermeister Dr. Peter Kurz in seiner Ansprache den Abschied Michels bezeichnet, ist dabei dramaturgisch und theatralisch perfekt inszeniert: Nicht nur Michel macht am Ende der Ausstellung das Licht aus, Ende Juli schließt auch das Haus für ein halbes Jahrzehnt wegen der anstehenden Generalsanierung.
Kurz bezeichnet „den Wechsel als eine Konstante am Theater“, die allerdings nicht für Michel gelte: In seinen 37 Jahren als Hoffotograf in Mannheim hat er viele Direktoren, Intendanten, Regisseure und Künstler kommen und gehen sehen. Michel aber blieb in Mannheim. Und wenn der Starfotograf doch einmal ging, dann nur für ein kurzes Gastengagement. Michel fotografierte als Gast am Thalia Theater und an der Staatsoper in Hamburg, am Schauspiel Stuttgart, am Residenztheater München, am Berliner Ensemble und an der Staatsoper Unter den Linden, für die Deutsche Oper am Rhein Düsseldorf/Duisburg ebenso wie für die Oper in Basel, für das Opernhaus Zürich, das Burgtheater Wien und auch für die Salzburger Festspiele.
Michels Autonome Kunstwerke
Und so kamen viele Weggefährten zur Eröffnung seiner Ausstellung. Es war ein Wiedersehen vieler Freunde und Künstler, die gemeinsam nochmals die 37 Jahre von Michels Wirken Revue passieren ließen und sich mit Freude auf den vielen Fotos wiedererkannten. Dabei soll die Ausstellung definitiv kein „nostalgischer Rückblick“ darstellen, wie Opernintendant Albrecht Puhlmann in seiner Rede ausführte. Vielmehr verwies er auf zahlreiche Paradigmenwechsel in der Wirkungszeit von Michel, etwa von der Analogfotografie hin zur Digitalfotografie oder von der Schwarzweißaufnahme zur Farbfotografie.
Wie zuvor schon der geschäftsführende Intendant Marc Stefan Sickel und Oberbürgermeister Kurz betonte Puhlmann ebenfalls, wie es Michel immer wieder gelang, „das Einmalige einer Aufführung einzufangen.“ Doch Puhlmann führte in seinen Ausführungen diese besondere Gabe von Michel noch weiter aus: „Michels Fotos lösen sich von der Aufführung“, Puhlmann bezeichnete Michels Fotos zu Recht als „Autonome Kunstwerke.“
Dass Michel aus „dem Nichts heraus“ solche losgelösten, Autonomen Meisterwerke entstehen lassen kann, macht die Sache nicht einfacher. Ist eine Theaterproduktion an sich schon eine künstliche Welt, dann stellt sich durchaus die Frage, welchen Realitäten Michels Werke überhaupt entsprechen? Sein berühmtes Fotos aus Goldonis Trilogie ist nicht nur ein Paradebeispiel eines solchen von der ursprünglichen Inszenierung losgelösten autonomen Werkes. Es stellt sich vielmehr die Frage: Ist das Theaterfoto überhaupt real? Was stellt die Wirklichkeit dar, was ist Fiktion?
Nur wer seinerzeit Briegers Inszenierung live gesehen hat und bezeugen kann, dass Katharina Voss leibhaftig in diesem Outfit fast allabendlich durch diese Tür verschwand, der kann Michels Foto in der richtigen Realität verorten. Für alle anderen könnte die Grundlage für dieses Foto etwa auch ein normales Ölgemälde gewesen sein, das einst einer anderen Mannheimer Schule entsprungen sein könnte.
Das versteckte Foto
Nun entstand hieraus nicht unbedingt ein Paradigma, Michel produzierte auch weiterhin bestechend gute und spannende, aber konventionelle Theaterfotos, die unzweifelhaft ein bestimmtes Geschehen auf der Bühne dokumentieren. Aber Michel experimentierte seit dem immer mehr mit seinen Autonomen Fotos, von denen auch das eine oder andere wieder aus dem Nichts entstanden sein dürfte. Es gibt in der Ausstellung noch zahlreiche weitere, aber später entstandene autonome Kunstwerke.
Wie wichtig Michel dieses Trilogie-Foto ist, zeigt die Tatsache, dass es gleich vier Mal in seiner Abschieds-Ausstellung zu finden ist. Neben dem Ausstellungsfoto gleich links neben dem Eingang existiert das Foto noch als Postkarte und kleines Poster zur Ausstellung. Das vierte Foto hingegen ist etwas versteckt und schwer zu finden, doch gerade das vierte Foto ist eigentlich das emotionalste. Der Weg führt ins obere Foyer, dort empfiehlt es sich über ein paar Grünpflanzen, Scheinwerfer und Kabel zu steigen und den Zugang hinter der in der Mitte des Saal vor der großen Fensterwand aufgestellten Plakatwand zu suchen.
Denn auf der Rückseite hängt fast im Verborgenem der Kontaktabzug jener Filmrolle, die Michel damals in der Kamera hatte und mit der er sein berühmtestes Foto schoss. Die ersten 35 kleinen Bildchen zeigen konventionelle Fotos von der Trilogie-Inszenierung, es sind gute und eindeutig zuordenbare Fotos der Inszenierung. Dann kommt das quasi aus dem Nichts entstandene berühmte autonome Foto Nummer 36. Michel spannte nach dem spontanen Auslösen sofort die Kamera neu und löste nur Sekundenbruchteile danach nochmals aus. Doch Voss war bereits verschwunden, einzig die Schleppe ihres Kleides lässt noch erahnen, dass sie gerade durch diese Türe verschwand.
Als Michel den Film später entwickelte, den Kontaktabzug aus dem Wasserbad holte und das Licht in seiner Dunkelkammer wieder anmachte, erkannte er sofort die Dimension des einen Fotos. Er markierte nur ein einziges Foto aus diesem Film, es war Foto Nummer 36. Und Michel markierte es mehrfach mit rotem Stift, so wichtig war es ihm: Er hatte wie immer nicht nur im richtigen Augenblick ausgelöst, Michel hatte aus dem Nichts heraus den Urknall der modernen Theaterfotografie auf Zelluloid gebannt.
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Ausstellung im Foyer des Spielhaus am Goetheplatz in Mannheim, vom 1. – 30. Juli 2022 . Jeweils eine Stunde vor Vorstellungsbeginn und danach geöffnet. Persönliche Führungen mit Hans Jörg Michel finden statt am 09., 16. und 23. Juli jeweils um 15.00 Uhr. Der Eintritt ist frei, bitte um vorherige Anmeldung unter: nationaltheater.kasse@mannheim.de
Ende Juli erscheint zudem noch ein Bildband zur Ausstellung und zu Hans Jörg Michel. Vorbestellungen nimmt das Nationaltheater heute bereits entgegen.