Die Stimmen waren ausgezählt und es stand am Sonntagabend (28. Mai 2023) schnell fest, dass Recep Tayyip Erdoğan die Stichwahl für das Amt des türkischen Staatspräsidenten gewonnen hatte, wenn auch knapp. Menschen gingen auf die Straße und feierten den alten wie neuen Präsidenten, andere waren noch auf der Straße und hatten gehofft, dass Erdoğans Gegenkandidat Kemal Kılıçdaroğlu der neue Präsident werden würde.
Es kommt zu Ausschreitungen in Mannheim
Die einen sind enttäuscht, die anderen feiern ausgelassen an diesem warmen Sonntagabend, tanzend und fahnenschwenkend ziehen Türken durch Mannheim, Autokorsos schlängeln sich hupend durch die Stadt, auch aus dem nahen und weiten Umland strömen viele Menschen in die Innenstadt.
Der Marktplatz wird zum Treffpunkt für die Siegesfeier der Türken, während ein Quadrat weiter sich vor den dortigen kurdischen Cafés die Verlierer der Wahl versammeln. Und dazwischen steht die Polizei, die versucht, die beiden Lager auf Distanz zu halten. Die Polizei sperrt zwar schon früh die Zufahren in die Innenstadt ab, doch die Maßnahmen in der Stadt und insbesondere zwischen den beiden Gruppierungen reichen irgendwann nicht mehr aus.
Es kommt zu Ausschreitungen der beiden Lager. Die Kurden sollen die Türken attackiert haben, sagen viele. Andere sagen, die Türken sollen die Kurden provoziert haben. Es sollen angeblich Provokateure unterwegs gewesen sein, die Ausschreitungen sollen sogar organisiert gewesen sein, so ist zu hören. Es gibt Menschen, die zeigen im Umfeld der Auseinandersetzungen öffentlich ihre Schusswaffen. Andere greifen gezielt Menschen an und versuchen Fahrzeuge zu beschädigen.
Die Lage eskaliert letztlich. Auslöser sollen von Kurden geklaute türkische Fahnen gewesen sein: „Die Kurden haben aus Autos türkische Fahnen geklaut“, berichten übereinstimmend mehrere Türken, die an diesem Abend auch in die Innenstadt gekommen waren. Andere sagen, dass eine Frau geschlagen worden sein soll. Als weitere Brüder und Beschützer der Frau zu Hilfe eilen, soll die Polizei in der unübersichtlichen Lage auf die Helfer eingeprügelt haben. An anderer Stelle kommt Pfefferspray zum Einsatz, es fließt auch Blut.
Die Polizei fordert Verstärkung an, selbst aus Heidelberg rasen Mannschaftswagen unter Blaulicht nach Mannheim. Es ist kurz nach 20 Uhr, als das Telefon des Adem Özcan klingelte. Der ist mit seiner Frau gerade auf einer Hochzeitsfeier, als ihn Freunde anrufen. „Die Lage eskaliert hier, haben sie gesagt, ich solle kommen.“
“Wir müssen Respekt haben und andere nicht stören”
Adem Özcan bezeichnet sich selber als einen sozialen Menschen. In der Türkei leitet er Hilfsorganisationen für Frauen in Not und für kranke Kinder. Seine Frau Ayse bezeichnet ihn liebevoll als einen Hilfsengel: „Wir brauchen solche Leute“, wie sie sagt. „Alle müssen helfen“, ergänzt er noch, „dann geht es uns allen gut.“
„Ich bin nicht politisch,“ auch das zeichnet ihn aus. Er hat an diesem Sonntag nicht gewählt, er hat noch nie gewählt, wie er sagt. Adem Özcan gehört keiner Partei an, weder der kurdischen PKK noch der türkischen AKP. Und doch hat er viele türkische und kurdische Freunde und Bekannte. Und er hat großen Einfluss sowohl bei den Türken als auch bei den Kurden.
„Ich möchte Vorurteile durchbrechen“, so seine Mission, „ich möchte Ruhe in meiner Stadt haben.“ Es sei sein Wunschtraum, wie er mit einem charmanten Lächeln berichtet, dass „alle friedlich zusammen leben.“ Es müsse unerheblich sein, so seine Worte, wie jemand aussieht, woher er kommt, welcher Religion er angehört, welche Partei er wählt: „Wir müssen Respekt haben und andere nicht stören.“
Gefährliche Situation bei den Kurden
Schon vor der Stichwahl hatte er viel telefoniert und seine Freunde aufgefordert, am Sonntag nach der Wahl nicht nach Mannheim zu kommen und nicht auf die Straße zu gehen. „Es gibt nichts zu feiern“, wie Adem Özcan sagt, „ich habe den Leuten gesagt, sie sollen zuhause feiern, wenn sie denn feiern wollen.“ Aber es gäbe immer solche Leute, die provozieren wollen.
Solche Leute waren wohl am Sonntagabend in Mannheim bestimmend. „Beide Seiten waren heiß“, wie Adem Özcan die Stimmung bei seiner Ankunft in der Innenstadt beschreibt: „Es war gefährlich dort.“ Er wollte zuerst zu den Kurden um dort zu beruhigen, aber das ging nicht so einfach. „Ich war alleine zu schwach.“
Adem Özcan ging daraufhin zur anwesenden Polizei und stellte sich vor. „Ich kenne beide Seiten“, soll er dem Einsatzleiter gesagt haben, „ich kenne die Gefühle der Leute und möchte mit denen reden. Und ich möchte die Leute nach Hause schicken.“
Schwierige Ausgangslage und ein Vertrauensbeweis
Das klingt nach einer kaum lösbaren Aufgabe in solch einer Nacht, in der selbst die Polizei kaum für Ruhe sorgen kann. Denn wenn die Türken fälschlicherweise behaupten, die Polizei würde nur die Kurden beschützen und die Kurden andererseits ebenso fälschlicherweise behaupten, die Polizei würde nur die Türken beschützen – dann kann auch die Polizei nicht viel mehr ausrichten als die beiden Gruppierungen geduldig auf Distanz zu halten.
Doch Adem Özcan hat Erfahrungen mit Menschenansammlungen und kann entsprechende Referenzen vorweisen, wie in solch einer Patt-Situation zu verfahren ist und wie die Menschen einen neutralen und friedlichen Vermittlungspartner akzeptieren: „In Istanbul habe ich einmal eine Demonstration mit knapp 40.000 Menschen friedlich aufgelöst und die Leute nach Hause geschickt. Das haben die dann auch getan.“
„Es war eine kritische Entscheidung“, wie Adem Özcan die Situation der Polizei in Mannheim beschreibt, die ihm letztlich vertraut und auf sein Angebot eingeht: Adem Özcan soll für die Polizei die Versammlung auflösen und die Leute nach Hause schicken. „Wir wissen nicht, wer der Mann ist“, sagte noch in der Nacht ein leitender Polizist auf Anfrage, „wir kennen ihn nicht, aber er hat Einfluss und kann offenbar mit den Menschen auf beiden Seiten reden.“
Lokale Friedensverhandlungen und ein wichtiger Handschlag
„Ich bin stolz auf die Mannheimer Polizei, dass sie mir das erlaubt haben“, sagt Adem Özcan rückblickend, „die Polizisten waren die wahren Helden in dieser Nacht.“ Die Entscheidung habe ihm Kraft gegeben für seinen Auftrag: Adem Özcan suchte sich erstmal von jeder Seite einen Ansprechpartner und begann mit denen in Anwesenheit des Einsatzleiters der Polizei zu verhandeln.
Doch die Gespräche kamen anfänglich nicht voran: Die Kurden verlangten, dass zuerst die Türken gehen sollten, zuerst sollte also der Marktplatz geräumt werden. Doch das wollten die Türken nicht machen. Nach weiteren Gesprächen und Vermittlung von Adem Özcan stimmte der Vertreter der Türken auf dem Marktplatz schließlich dennoch zu, dass sie als erstes nach Hause gehen. Danach sollten auch die Kurden nach Hause gehen. Der Einsatzleiter, die beiden Vertreter der Kurden und Türken und Adem Özcan besiegelten den Deal mit einem gemeinsamen symbolischen Handschlag.
Das Schöne und Gute gewinnt
Gegen 23 Uhr rollte dann ein Polizeiauto auf den Marktplatz und hielt in der Mitte der dort versammelten Türken. Adem Özcan ergriff das Mikrofon und begann über das Lautsprechersystem des Polizeifahrzeuges zu seinen Landsleuten zu sprechen – lang und auf türkisch.
„Wir wissen nicht, was er gesagt hat“, sagte ein leitender Polizist noch in der Nacht, er versteht die Sprache nicht. Aber die Polizei vertraut Adem Özcan, denn er kann die Menschen auf dem Marktplatz zunächst einmal beruhigen: Die Menschen scharen sich um das Polizeiauto und hören Adem Özcan aufmerksam zu.
Der spricht sehr emotional und fordert voller Stolz im Namen der türkischen Fahne sowohl die Türken als auch die Kurden auf, sich ruhig zu verhalten und keine Fehler zu machen: „Wir sind alle Menschen, wir sind ein Volk, wir möchten niemanden verletzen, wir möchten nichts Schlechtes tun und wir wollen niemanden enttäuschen”, schallt es aus dem Polizeiwagen: “Wir wollen vorbildliche Personen sein.”
Als es zu Zwischenrufen gegen die Kurden kommt, erinnert Adem Özcan einmal mehr an die die Brüderlichkeit von Kurden und Türken und fordert die Menschen auf, sich entsprechend brüderlich zu verhalten. Nach den vorausgegangenen Vorkommnissen bittet er ferner darum, keine Revanche zu nehmen: “Wir wollen uns nicht als Opfer darstellen, wir sind stolze Menschen.”
“Wir zeigen denen, dass wir tolle und vorbildliche Menschen sind”, ruft Adem Özcan den Menschen zu und bittet sie, der Polizei behilflich zu sein. Er berichtet von den Verhandlungen und fordert die Menschen auf, „jetzt brüderlich auseinander zu gehen. Ich habe es der Polizei versprochen.“
Noch während seiner Rede wird er aus dem Publikum heraus als rechtsradikal bezeichnet. Doch das bringt ihn nicht aus der Fassung, Adem Özcan zieht sein Programm durch – und hat am Ende Erfolg: Kurz nach seiner Rede verlassen die Menschen friedlich den Marktplatz.
Und auch auf der anderen Seite der Absperrung halten sich die Menschen an die mit Adem Özcan getroffene Vereinbarung: Nachdem die Polizei bestätigt hat, dass die Türken den Marktplatz verlassen haben, gehen auch die Kurden langsam nach Hause. Gegen 23.30 Uhr konnte die Polizei sogar die Polizeiabsperrungen zurücknehmen.
Morddrohungen und falsche Anschuldigungen
Bereits am nächsten Morgen berichteten türkische Medien über die „faschistische Provokation in Mannheim“ und bezeichnen Adem Özcan fälschlicherweise als eine „rassistische, nationalistische und faschistische Identität“, die vom Polizeiauto aus aufrief, sich zu zerstreuen. In den Sozialen Medien gab es gar Morddrohungen gegen Adem Özcan.
„Wir werden nie aufgeben“, bekräftigt Adem Özcan nach den Vorkommnissen von Mannheim seine Zuversicht und hält weiterhin an der Idee und seinem Wunschtraum eines friedlichen Zusammenlebens nicht nur von Kurden und Türken fest: „Die Provokateure kämpfen für etwas Schlechtes, die können nur verlieren. Wir aber kämpfen hingegen für etwas Schönes und Gutes, wir gewinnen immer.“