Jean-Philippe Rameau musste 50 Jahre alt werden, bis er die offizielle Genehmigung für seine erste Oper “Hippolyte et Aricie” erhielt. Mit den Unterbrechungen von zwei Lockdowns brauchte das Nationaltheater Mannheim drei Jahre um diese Oper zu inszenieren. Da ist dann bei der virtuellen Premiere ein fast einstündiges technisches Problem mit Komplettausfall der Webseite und dem Livestream eigentlich ganz in Linie mit der Geschichte der Oper.
Regisseur Lorenzo Fioroni tobt sich aus am Nationaltheater Mannheim und inszeniert einen opulenten expressionistischen Barock-Wahnsinn, der ein Fest der Sinne wird. Im Grenzbereich zwischen Realität, Phantasie, Alptraum und Halluzination schickt er die Zuschauer auf eine mehr als zweistündige spannende optische, musikalische und inhaltliche Entdeckungsreise und nimmt alles technisch machbare mit, was sich ihm bietet. Jedes noch so kleines Detail wird bewusst in Szene gesetzt und zum Statement erkoren. Etwa Phèdre (Sophie Rennert) mit dem anfänglichen blauen Kostüm und dem Kind auf dem Arm als britische Thronfolgerin Kate Middleton oder die drei Parzen (Christopher Diffey, Raphael Wittmer, Marcel Brunner) als Mitglieder der Académie française.
Wobei: Das Stück wirkt bisweilen auch überfrachtet, und dafür ist die zweite Erzählebene verantwortlich, die Fioroni über die eigentliche Handlung der Oper stülpt. Neben der griechischen Tragödie macht er die Inszenierung zum Abgesang auf die absolutistische Zeit in Frankreich. Und auch da lässt er wieder nichts aus, der Kreis der Revolutions- und Umbruchsthemen reicht bei Fioroni von der französischen Revolution über die 60er hin zu den jüngsten Gelbwestenprotesten und zurück zur barbusigen Jeanne D’Arc. Ob allerdings die für die damalige Zeit moderne Musik Rameaus dazu taugt, sie als Vorgriff auf die französische Revolution zu sehen und das Revolutionsthema bei Rameau zu vororten, ist fraglich: Es ist heute im Nachhinein leicht, die Oper als „Abfeiern des Königtums in Frankreich“, zu verstehen, wie Fioroni sie beschreibt. Von einer solchen Denkweise dürfte Rameau als Teil des Systems aber weit entfernt gewesen sein.
Nicht jede damalige moderne neue Musik muss gleich als Aufruf zur Revolution verstanden werden: 1733 entstand viel Neues und Modernes, etwa auch Johann Sebastian Bachs h-moll Messe und sein „Tönet, ihr Pauken! Erschallet, Trompeten!“ Aber hätte sich Rameau mit einem kritischen Werk an seinen Geldgebern und Gönnern nicht eher den eigenen Ast abgesägt? Und auch die Schläge am Ende von Rameaus Oper, die das Regieteam als ein fallendes Beil der Guillotine beschreibt, eigenen sich kaum als Nachweis des Revolutionsthemas: Joseph-Ignace Guillotin erblickte erst fünf Jahre nach der Premiere von „Hippolyte et Aricie“ das Licht der Welt und es sollte nochmals knapp 50 Jahre dauern, bis seine messerscharfe Erfindung zusammen mit der Französischen Revolution in die Geschichtsbücher einging.
Für ein wahres orchestrales barockes Feuerwerk sorgt am Dirigentenpult der Barockexperte Bernhard Forck, der zwischen berührender Zartheit bis hin zu den rhythmischen Tänzen und prächtigen Chorstücken mit dem Orchester des Nationaltheaters zu einer bemerkenswerten Einheit verschmilzt. Es ist bisweilen schwierig, sich auf die Musik zu konzentrieren, wenn Fioroni mit seinen vielschichtigen Inszenierung die volle optische Aufmerksamkeit verlangt: Während Phèdre auf allen Vieren lasziv über den Billardtisch kriecht und mit brillantem Spiel und Gesang auf die Gunst von Hippolyte hofft (ebenfalls begnadet gut: Charles Sy), laufen kaum sichtbar im Hintergrund ihre sexuellen Phantasien als Projektion ab, die irgendwo zwischen gewagtem Stunt und ungezügeltem Ausbruch der Wolllust an Komik kaum zu übertreffen sind. Dabei gehört Phèdres Verführungs- ebenso wie die dramatischen Selbstmordszene zu den orchestralen wie auch stimmlich-dramatischen Highlights der Premiere.
Nikola Diskić (Thésée), Estelle Kruger (Diane), Marie-Belle Sandis (Oenone), Uwe Eikötter (Tisiphone) und Patrick Zielke (Jupiter/Pluton) müssen ebenso genannt werden, spielerisch und stimmliche Bestbesetzungen. Auch die Besetzung der Aricie mit Amelia Scicolone ist eine Meisterleistung, man möchte sie aber in dem Augenblick fast warnen wenn sie mit Hippolyte mit gepackten Koffern im Finale wieder auf Reise geht: Die erste gemeinsame Reise hat er schon nicht überlebt, ob er nochmals aus der Unterwelt zurück kommen würde, ist fraglich.
Paul Zoller und Loriana Casagrande (Bühne) verdienen für ihr Bühnenbild Respekt ebenso wie Katharina Gault für die Kostüme, auch der Chor und die Bewegungsstatisterie überzeugen. Und zuletzt auch ein Dank an das professionelle Filmteam von klangmalerei.tv GmbH, dass es in Corona-Zeiten nicht nur möglich gemacht hat, die Oper ins heimische Wohnzimmer zu bringen, sondern mit ungewohnten Einstellungen auch näher als sonst üblich an die Akteure heran zu kommen. Die gelungene Premiere aus der virtuellen Loge vom heimischen Sofa aus im Schlafanzug zu verfolgen hatte durchaus seinen Reiz. Bravo!
“Hippolyte et Aricie” ist noch bis 30. Juni 2021 Im Stream auf NTM digital oder auf Youtube zu sehen.